Ammerten: Die Freien

Die starken Hirten der Berge glaubten eben, als sich unten in den Tälern schon mächtige Städte und Gotteshäuser erhoben, noch lange nur an ihre eigene Ordnung: Weniger aus bitterer Not als aus Übermut überfielen sie gern ihre Nachbarn und wer unter ihnen dank Körperkraft, Waffenübung oder List dabei den Viehbesitz der Seinen am meisten zu mehren vermochte, den grüssten die schönen Mädchen am herzlichsten, der war bei Freund und Feind in der ganzen Umgegend wohl angesehen.
Einmal, da überfielen wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Walliser die fruchtbaren Alpen der Lenker im Obersimmental und führten fröhlich ganze Herden als Beute mit sich. Nur die Weiber und die alten Männer waren bei den Beraubten in den Hütten, die ganze kampferprobte Jugend ging für sich irgendwo recht gefährlichen Abenteuern nach. Trotzdem brachen alle, was sich einigermassen auf den Füssen zu halten vermochte, zur Verfolgung der frechen Gegner auf.
Bald schon erblickten die Lenker ihr weggetriebenes Vieh, die siegessicheren Walliser hatten es nun einmal nicht mit der Eile. Die neugewonnenen Herden liessen sie ruhig weiden und feierten in der Nähe den leichten Sieg mit Wein und Spottgesang. Vielleicht wollten sie, sich ihrer gewaltigen Übermacht wohlbewusst, ihre Verfolger sogar absichtlich in die Nähe kommen lassen, um dann schwache Weiber und Greise tüchtig verhöhnen zu können. Da lösten die listigen alten Lenker heimlich die Glocken von den Kühen und schwangen sie selber hin und her, dass es auf der Weide lustig weiterbimmelte. Die Weiber unterdessen, die trieben die gestohlenen Herden rasch wieder heimzu. Erst als Frauen und Vieh so weit weg waren, dass auch der Dümmste unter den Wallisern die Sinnlosigkeit einer wilden Verfolgung sofort einsehen musste, hörten die klugen Greise mit ihrem Schellen auf und liessen dafür ein schallendes Gelächter von allen Bergwänden widerhallen.
Für ihren Mut in der Not erhielten die Lenker Frauen von da an das ehrenvolle Vorrecht, die Kirche vor ihren Männern verlassen zu dürfen.

Zu dieser Sage gibt es auch ein „ Friedens-Lied“ von Martin Hauzenberger

Quelle: Hausbuch der Schweizer Sagen von Sergius Golowin