Beinhaus
Geschichte Kirche und BeinhausBeinhaus
Auch Zweisimmen verfügte in vorreformatorischer Zeit über ein Beinhaus – was eindeutig Ausdruck seiner Zentrumsfunktion war. Beinhäuser gehörten ab dem 11. Jahrhundert in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz mancherorts zum Ensemble von Kirche und Friedhof. Sie wurden gewöhnlich in Hanglage und zweigeschossig gebaut, wobei der untere Raum für die Aufbewahrung von Knochen, der obere als Kapelle für Totenmessen und sogenannte „Jahrzeiten“ bestimmt war. Die Verstorbenen waren damit „unter dem Altar“: im räumlichen wie auch im geistlichen Sinne. Im Schutz der Kirche erwarteten sie die Auferstehung. In der Glaubenswelt des Spätmittelalters übereignete der Sterbende seinen Leichnam der Obhut der Kirche. Die Bestattung erfolgte in geweihter Erde in räumlicher Nähe zum Kirchenaltar, womit die Nähe zum Allerheiligsten und zu den dort aufbewahrten Reliquien gegeben war. Erweiterungen des Friedhofes waren wegen dieser unerlässlichen Nähe nur beschränkt möglich. Bevölkerungswachstum, aber auch die ab Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa grassierende Pest führte zu Raumnot auf den Friedhöfen. Zudem fanden die Bestattungen auf dem Areal eher unsystematisch statt; eine Ruhefrist der Gräber war unbekannt. Hier brachten die Beinhäuser eine angemessene Lösung. Beim Ausheben eines neuen Grabes zu Tage tretende Knochen (insbesondere Schädel, Oberschenkel- und Oberarmknochen) wurden hier von nun an sorgsam aufbewahrt, meist sogar kunstvoll aufgeschichtet. Wurden Beinhäuser bis etwa 1300 auf der Nordseite der Kirchen errichte, da „Norden“ in der Symbolik des Mittelalters die Seite der Dunkelheit, des Todes war, fand ab 1300 ein Umdenken statt. Beinhäuser wurden von nun an auf der Südseite platziert: Der Süden als Seite des Mittags, des Lichts, der Auferstehung. In dieser Lage wurde im Jahre 1481 auch das Beinhaus von Zweisimmen errichtet. Viele Jahre blieben ihm aber nicht für seine eigentliche Zweckbestimmung; denn bereits 1528 wurde auch im Simmental die Reformation durchgesetzt.
Geschichte
Das Beinhaus am Kirchhofrand, im Kern Spätromanisch. Am oberen Kirchhof anschliessend im Kern mittelalterliches, mehrfach umgebautes Pfarrhaus, das nach einem Brand 1940 durchgreifend erneuert wurde.
Vor der geplanten Renovation des Beinhauses unweit der Kirche von Zweisimmen wurden im Herbst 2005 archäologische Untersuchungen durchgeführt. In der Baugrube für den späteren Anbau kam ein dicht belegter Friedhofsteil mit mehreren übereinander liegenden Gräberschichten zum Vorschein. Insgesamt konnten 122 Gräber anthropologisch in situ untersucht werden. Während die Bestattungen der oberen Lagen mit dem Blick nach Norden (bzw. „Kirchen-Osten“) ausgerichtet waren zeigten jene der unteren Lagen eine davon abweichende Orientierung zum geographischen Osten. Von diesen ist anzunehmen, dass sie mindestens teilweise vor dem Bau des Beinhauses in den Boden gelangten. Die darüber liegenden Skelette datieren wohl in die Zeit zwischen dem Bau des Beinhauses von 1481 und dem 19. Jahrhundert.
Die neuzeitlichen Gräber waren streng in Reihen angeordnet. Ohne sich gegenseitig zu stören, lagen einige Bestattungen derart dicht nebeneinander, dass man annehmen muss, diese Verstorbenen seien gleichzeitig bestattet worden. Zweisimmen wurde im 16. und 17. Jh. wiederholt von der Pest und anderen Seuchen heimgesucht.
Christian Burgener (1770–1836), Amtsnotar und Gerichtsschreiber in Zweisimmen, berichtet in der um 1820 verfassten „Grossen Burgener-Chonik“ von einer Epidemie im Jahr 1611: „Das sogenannte grosse Schwinden (giftige Pestilenz) soll laut Tradition so stark grassirt haben, dass 18 Rosse mit Leichen […] einander folgten und es endlich soweit kame, dass man für die Todten keine Särge mehr anschaffen konnte […]. Es wurden zwei Kasten gemacht, den einen um 2 Leichen aufzunehmen, der andere um 4 Leichen darin zu legen.“
Neben medizinhistorisch relevanten Fragen sollen mit der detaillierten anthropologischen Untersuchung auch Fragen zu Lebensbedingungen und Krankheiten dieser Bergbevölkerung der Frühen Neuzeit beantwortet werden.
Quelle: Universität Bern | Historische Anthropologie